In diesen teils skizzenhaft hingeworfenen, teils zu größeren und Formen ausgearbeiteten Stücken reflektiere ich die musikalischen Mittel um die meine kompositorische Arbeit seit meiner Jugend kreist. Die herbe und reine Welt der Kinderlieder, die verschiedenen Spielarten tonaler Elemente, wie der Dreiklang, pentatonische und modale Skalen, Dur- und Molltonleitern, rein gestimmte Naturtonskalen vom 7. bis zum 14. Oberton und ihre Spiegelungen ins Moll. Dann aber auch Schichtungen aus Quinten, Quarten, Tritoni und kleinen Sekunden, freie melodische Gesten aus dem chromatischen Material des zwölftönigen Tonsystems, Clusterbildungen, Glissandi und Geräusche.
Das Zusammenspiel dieser Elemente empfinde ich als eine Welt mit all ihren verschiedenen Schichten des äußeren und inneren Lebens. Es gibt kalte,und mineralische Klänge, Ausbrüche von Naturgewalten, schimmernde Farbspiele, Aroma, Duft, Licht, Luft, Wärme und Klänge, mit denen sich die Innenräume und Abgründe der menschlichen Seele öffnen…
Der theoretische Horizont vor dem diese Kompositionen entstanden sind, sei in einem kleinen Exkurs über das Tonsystem aufgezeigt:
Das abendländische Tonsystem lässt sich von zwei gegensätzlichen Aspekten aus betrachten. Im Zentrum des ersten Aspekts stehen die siebentönigen Skalen mit der Besonderheit, dass ihre Töne eindeutige Namen haben. C-d-e-f-g-a-h-c oder do-re-mi-fa-so-la-si-do bezeichnen den eindeutigen Platz des jeweiligen Tones im Zusammenhang der anderen. Dieser Zusammenhang der sieben klar benennbaren Töne bildet eine in sich geschlossene Form, in der jeder Ton sich vom anderen unterscheidet und gleichzeitig eindeutig auf die anderen bezieht. Diese Form ist so in sich geschlossen, dass sie völlig vergessen macht, dass sie im Rahmen eines übergreifenden Systems steht. Und das führt zum zweiten Aspekt, denn das abendländische Tonsystem hat als Ganzes gesehen zwölf Töne. Aber diese zwölf Töne sind in einem ganz anderen Sinne Töne als die sieben Töne der Skalen. Sie haben keine Namen, sondern sind ein Ordnungsprinzip, das die Eindeutigkeit der sieben Töne aufhebt und in einen höheren Zusammenhang stellt.
Die zur Zwölftönigkeit gehörenden die Begriffe Temperatur, Enharmonik und Chromatik verweisen darauf, dass die Zwölftönigkeit einer grundlegend anderen Dimension angehört als die sieben Töne der Skala, aber gleichzeitig auch, dass die Siebentöngkeit das Material ist, an dem der Aspekt der Zwölf überhaupt erst erscheint. So gibt der Raum der Zwölferordnung die Möglichkeit, jeden eindeutig definierten Ton der siebentönigen Tonleiter in einen Ton einer anderen enharmonisch zu verwandeln. Im Raum der zwölf Töne kann jeder Ton aus der Siebenerordnung sich letztlich in beliebiger Weise umdefinieren: „C“ kann beispielsweise Grundton sein oder Septime von „Des“ oder als „Deses“ eine Mollterz über „Ces“ oder als „His“ Leitton zu „Cis“ werden, um nur einige Möglichkeiten aufzuzeigen. Die Zwölftonordnung gibt den einheitlichen Rahmen, der die unendlichen Verwandlungsoptionen der Töne fasst. Oder, um es noch anders auszudrücken, die Töne der Klaviertasten sind bezogen auf das ganze System namenlos. Ihre Namen erhalten sie erst durch die sieben Töne der Tonleiter.
In der europäischen Kunstmusik sind Siebentönigkeit und Zwölftönigkeit zwei Aspekte, die immer nur gemeinsam auftreten. Jede siebentönige Skala ist eine von zwölf Tonarten, jeder der zwölf Töne konkretisiert sich in der klaren Bestimmung eines der Siebenerordnung zugehörigen Tones und zeigt gleichzeitig seine Verwandlungsoptionen auf.
Zwei Intervalle sind die Basis sowohl für die Welt der Sieben, wie für die der Zwölf: Quinte und Oktave sind die Grundlage, aus denen beide Ordnungen entstehen. Die Quinte manifestiert gleichzeitig den engsten Bezug zwischen zwei Tönen und ihre klare Abgrenzung. Von Quinte zu Quinte entstehen neue Töne: F-C-G-D-A-E-H- und bilden zunächst das Material für die sieben Töne der Tonleitern. Aber diese Tonreihe lässt sich beliebig fortsetzen: Fis-Cis-Gis-Dis-Ais-Eis-His... Nur die Oktave begrenzt diese prinzipiell unendlich fortsetzbare Tonfolge, setzt His mit C gleich und schafft so den Rahmen, in den sich die Quinten als temperierte Quinten einpassen und das zwölftönige Tonsystem schaffen.
Künstlerisch interessiert mich die Trennung dieser beiden Aspekte des Tonsystems aus ihrer unmittelbaren Abhängigkeit voneinander und die Wahrnehmung und Gestaltung der Eigengesetzlichkeit der verschiedenen Elemente. Der Dreiklang nicht als Funktion, sondern als spezifischer Klang, der besondere Charakter einer diatonischen, modalen oder pentatonischen Skala in ihrer besonderen Stimmung, jedes Intervall mit seiner eigenen Atmosphäre und die neuen Qualitäten, die entstehen, wenn man über die Grenzen der Zwöltönigkeit hinausgeht und die reinen Intonationen der höheren Naturtöne mit einbezieht. Oder demgegenüber dann die Klangmöglichkeiten, die entstehen, wenn die zwölf Töne der chromatischen Skala einfach als Tonvorrat aufgefasst werden, aus dem sich spezifische motivische Gestalten und freie Zusammenklänge bilden lassen oder die Grenzen der Töne in Clusterbildungen, Glissandi oder Geräusche auflöst.
Diese Trennung zwischen der Welt der sieben und der zwölf Töne führt in der Konsequenz also nach zwei Seiten über das zwölftönige Tonsystem hinaus, erweitert es oder löst es ganz auf.
Für sich betrachtet weicht jede Quint und jede Terz vom zwölftönigen System ab und je tiefer man in die Welt dieser reinen Tonalität hineinhört, desto weiter entfernt man sich von der Zwölftönigkeit und kommt zu den höheren Naturtönen, die sich nicht mehr in der zwölftönigen Temperatur fassen lassen. Nach der anderen Seite hin löst sich das Tonsystem auf, weil es ohne Bezug auf die Umdeutbarkeit der sieben Töne gar keinen Grund zu einer Begrenzung auf zwölf Töne gibt. Jeder Ton ist dann für sich genommen ein Klang, der mit jeder anderen möglichen Tonhöhe ergänzt werden kann. Fasst man den musikalischen Ton einfach als Klang auf, so unterscheidet er sich nur graduell vom anderen Klängen und Geräuschen. Hört man allerdings musikalisch in die Eigengesetzlichkeit der Klänge und Geräusche hinein, so kommt man von der anderen Seite wieder in die Welt der Naturtöne und damit zur Tonalität zurück, die man gerade verlassen hat...
Für das Spiel mit der Eigengesetzlichkeit dieser Elemente boten die Mysteriendramen Rudolf Steiners mir einen Resonanzraum. Die „Mysterienszenen sind 2009/2010 als Bühnenmusiken für die Neuinszenierung der Mysteriendramen am Goetheanum in Dornach entstanden. Die Musiken illustrieren nicht, sondern bilden eigenständige musikalische Formen und werfen ihr Licht auf die Inhalte der Dramen oder spiegeln ihre Bilder.
Die ersten acht Sätze der Suite reflektieren die „Visionen des Johannes Thomasius“, eines Malers, der, um Selbsterkenntnis ringend, in eine dramatische innere Zerreißprobe gerät und seine eigene Vergänglichkeit als Abgrund empfindet, der ihn zu verschlingen droht. Er spürt die Macht der Natur, und er erschrickt vor seiner Ohnmacht und der Unfähigkeit, sich der geistigen Dimensionen seines eigenen Wesens bewusst zu werden. Wo er sich auch hinwendet, zu den Pflanzen, den Tieren, den Steinen, der Landschaft, der Luft und dem Licht, überall hört er aus Quellen und Felsen die Worte „O Mensch erkenne dich!“. In einer späteren visionären Schau begegnet er „Lucifer“ dem Geist des Lichts und „Ahriman“ dem Geist der Finsternis. Beide versuchen, ihn von dem schweren Weg der Selbsterkenntnis abzubringen und die Formel „O Mensch, erkenne dich!“ abzuwandeln in „O Mensch, empfinde dich!“ (Lucifer) und „O Mensch empfinde mich!“ (Ahriman). Lucifer lockt über die Selbstempfindung zur Selbstauflösung in selige Lichteswelten und Ahriman preist die Sicherheit und kalte Schönheit einer rein materiellen Welt.
Ausgangspunkt dieser Musiken bildet der Gesang einer Kinderstimme, mit der das erste Drama in der Bühnenfassung beginnt und das die Schönheit und Geistigkeit der Natur besingt. Die Piccoloflöte spielt diese Melodie und alle dramatischen Ausbrüche des ersten Teils werden immer wieder auf diesen Ausgangspunkt zurückbezogen.
Die „Tempelmusiken“ fassen das Geschehen zusammen und reflektieren es von einer höheren Ebene aus. Der archaische Klang von fünf großen Tai-Gongs lässt die Welt uralter Mysterien aufscheinen.
Der neunte Satz „Märchenszene“ bezieht sich auf die Begegnung des Professors Capesius mit der Märchenwelt der Kräutersammlerin Felicia Balde.
In den „Visionen des Bendiktus“ werden die bis hierher verwendeten musikalischen Elemente zu polyphonen Engführungen verdichtet. Diese Visionen haben einen anderen Charakter, als die des Johannes Thomasius. Nicht die eigenen inneren Kämpfe stehen im Vordergrund, sondern Benediktus ist in der Lage, die irritierende Wucht der Schauungen zu ertragen. Lucifer und Ahriman erlebt er in gesteigerter Intensität und sein Bewusstsein umfasst die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Erfahrungen und der Gefahren, denen Johannes Thomasius ausgesetzt ist. In seiner Vision erscheint Benediktus auch der „Hüter der Schwelle“, der an der Grenze zwischen dem Normalbewusstsein und der Fähigkeit, tiefere Schichten der Wirklichkeit zu erfassen, steht. Eine „idee fixe“ der Flöte bezeichnet irrlichterierend diese flüchtige Grenze…
Im letzten Teil öffnet sich für Johannes Thomasius zunächst die Realität der Naturgeister, der Gnomen und Sylphen. Dann zerreißt der Schleier des Alltagsbewusstseins und er erlebt, wie er in uralten Zeiten vor den Toren eines altägyptischen Tempels zurückbleiben musste, während seine Freundin Maria auf ein Einweihungsritual vorbereitet werden sollte. Dieses Ritual endete im Desaster, weil Maria, statt den Anweisungen der Priester zu folgen, den Empfindungen ihrer eigenen Seele Ausdruck verleiht und auf ihrer inneren Selbstständigkeit besteht.
Der Schluss der Suite bezieht sich auf Szenen, in denen es um loderndes Feuer eisige Kälte geht und um Eindrücke von der beweglichen Harmonie der geistigen Urbilder. Ein zarter Gesang der Altflöte lässt Naturtonskalen über reinen Dreiklängen schweben, abrupt unterbrochen von prasselnden Streicherkaskaden und Attacken der Schlaginstrumente.
Farbigen Klangräumen vergleichbar folgen die Mysterienszenen einer Dramaturgie der Tonarten. G-Dur liegt wie eine Lasur über den ersten acht Sätzen, a-moll prägt die Märchenszene, c-moll die „Visionen des Benediktus“, zwischen A-Dur und gis-moll changieren „Gnomen und Sylphen“, in gis-moll ist die „Tempelszene“ getaucht und der letzte Satz „Im Geistgebiet“ schwingt zwischen A-Dur, Des-Dur und F-Dur. Vom 1. bis zum 14. Satz werden pentatonische, modale und diatonische Skalen an aufgesplittertem chromatischem Material gebrochen. Vom 15. Satz bis zum Schluss wird dieses bis an seine Grenzen in Tempo, Dynamik und Rhythmik gesteigerte und in Glissandi und Gräusche sich auflösende chromatische Material in einen schwebendes Wechselspiel mit stehenden Dreiklangsflächen, reinintonierten Naturtonskalen und deren Spiegelung ins Moll gebracht.
Elmar Lampson 2011